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Gesund und schön sein
 


Gesund und schön sein – an Seele und Leib

 

 

Zwei allgemeine Phänomene unserer Zeit sollen das Problem von Gesundsein und Schönsein verdeutlichen.

 

1. Wenn ich mich nicht wohl fühle und krank bin, gehe ich zum Arzt. Dort wird mir an Hand bestimmter Untersuchungsmethoden eine bestimmte körperliche Beeinträchtigung diagnostiziert, und die Diagnose wird durch die Anwendung medizinischer Apparate verfeinert, soweit erforderlich. Medikamente werden verabreicht und gegebenenfalls wird eine Operation mehr oder weniger dringend angeraten. Die Fortschritte in der Erforschung des menschlichen Körpers und seiner physiologischen Funktionen sind ohne Zweifel beeindruckend.

Wir lassen es jedoch dazu kommen, dass sich die Arbeit des Arztes immer mehr auf die Funktion der Reparatur nach naturwissenschaftlichen Methoden reduziert und der Patient nur noch Objekt dieser Methoden ist. Die Folgen dieses allgemeinen Schemas zeigen sich in doppelter Hinsicht, wobei das eine das andere bedingt: a) Das Gesundheitswesen wird auf Dauer unbezahlbar. b) Wir verweisen die Gesundheit an die Fachkompetenz der Mediziner: Der Körper ist wie eine black box, deren Mechanik nur der medizinische Experte kennt; und wenn die Mechanik wieder repariert ist, hat sich die Sache erledigt. Das Problem fasst der Arzt Georg Groddeck 1893 in die Worte: Es gibt in Wirklichkeit keine Krankheiten, sondern nur kranke Menschen.[1] Jede Erkrankung ist ein Ereignis, das den ganzen Menschen nicht zuletzt in seinem Denken, Fühlen und in seinem sozialen Verhalten beeinträchtigt, sich oft auch über die persönlichen Belange hinaus auswirkt.

2. Was tun wir nicht alles, um schön zu sein? Kleider des letzten Jahres finden wir nicht mehr schön genug, deshalb müssen neue gekauft werden. Beim Einkaufen kann auch für die modische Dekoration des Körpers gesorgt und mit Salben, Cremes und Pillen das Aussehen verschönert werden. Fitness, Sport, Fasten u.a. sollen das Missliebige am Körper beseitigen. Am Ende bleibt der Gang zum Schönheitschirurgen, wo Krummes begradigt, Fett abgesaugt und Silikon eingesetzt werden kann. So ist der Körper zum Marktobjekt geworden, und der herrschende Körperkult macht ihn zum Designerobjekt. Aber in den meisten Fällen kann der eigene Körper die normierten und sich ständig verschärfenden Standards nicht erreichen.

Zugleich gehen mit den Schönheitsidealen Probleme des Selbstwertgefühls einher, in denen der Bruch zwischen dem Selbst und dem Körper zuweilen Gefühle produziert, die einer Leibfeindlichkeit gleichkommen: Der Körper steht dem Ideal entgegen, deshalb muss er einer Kontrolle unterzogen werden, damit er der Norm entspricht. Das Hat zur Folge: „Das Schönheitsideal entpuppt sich immer mehr als Waffe gegen neugewonnene Freiheiten... Die Befreiung der Frauen wurde aufgehalten durch ein neues, ein unheilvolles Verhältnis zum eigenen Körper.“[2] Im Jahrmarkt der Eitelkeiten geht die Kraft des Selbst verloren. Kann ein solches Verständnis von Schönheit den ganzen Menschen wirklich schön werden lassen? Trägt solches Schönheitsdenken ein ganzes Leben? – Im Blick auf die Leiblichkeit ist es dringend notwendig, eine Kehrtwende zu vollziehen und über das Verhältnis zu sich selbst intensiv nachzudenken.

 

 

1. Entfremdung von Selbst und Leib

Die heutige Gesundheitspraxis läuft darauf hinaus: Ich traue mir nicht mehr zu, das zu wissen, was mit mir los ist. Ich stelle keinen Bezug mehr zu mir selbst her, weil die Vorgänge ja an meinem Körper geschehen und der ist seit Descartes getrennt vom Ich. Auf diese Weise entfremde ich mich von meinem Körper. Die Entfremdung impliziert auch, dass ich mich in meinen körperlichen Regungen nicht mehr zurechtfinde, bzw. jede Regung kann zum Anlass für eine Krankheit werden und wird es dann auch meist, wenn ich mein Selbst heraushalte. Der moderne Mensch fühlt sich nicht mehr in der Lage, auch nur die kleinsten Entscheidungen in Bezug auf seinen Körper selbst zu fällen; er macht sich abhängig von Ärzten und therapeutischen Beratern. Durch allerhand Behandlungen von außen (vom Bestrahlen bis zur Massage, von der Pille bis zu Kurbädern) sucht er das Gleichgewicht herzustellen, das entglitten ist oder nie erreicht wurde. Darin liegt ein Problem unseres Denkens.

Die Medizin thematisiert den Leib des Menschen immer noch weitgehend als Maschine. Der Stoffwechselapparat hält die Maschine in ständiger Selbstreproduktion; der ständige Strom von durchfließenden Stoffen reproduziert den Körper und hält ihn in Form. Die Organe haben in diesem Stoffwechselprozess Teilfunktionen. Hinzu kommen Transportsysteme wie der Blutkreislauf und das Lymphsystem. Dann gibt es mehrere Informations‑ und Steuerungssysteme, die teilweise elektrisch, teilweise chemisch funktionieren. Die Haut, die Membranen in Augen und Ohren schließen das System nach außen ab. Die Muskeln und Sinnesorgane stellen die Verbindung zur Umwelt her. Die Geschlechtsorgane dienen der Reproduktion der Gattung. Auf diesem Weg lässt sich in der Tat vieles regulieren.

Das Phänomen des bleibenden oder immer wiederkehrenden Schmerzes weist uns jedoch darauf hin, dass zwar etwas am Leib nicht in Ordnung ist, aber es ist der Mensch, der leidet, indem er diese Erfahrung an seinem Leib macht. Die unterschiedliche Resistenz gegenüber dem Schmerz ist ein Indiz dafür, dass die seelische Dimension des Geschehens eine große Rolle spielt. Letztlich findet eine medizinische Behandlung des Körpers überhaupt wegen der seelischen Begleiterscheinungen statt. Umgekehrt macht der wiederkehrende Schmerz darauf aufmerksam, dass die rein körperliche Behandlung eine Klärung der psychisch-geistigen Ebene notwendig macht bzw. daraufhin erweitert werden muss. Krankheit ist ein Phänomen, das den ganzen Menschen betrifft, nicht nur den Leib.

 Der junge Charmides klagte über Unwohlsein, schon am Morgen hatte er starke Kopfschmerzen. Sokrates sagte zu ihm, er kenne ein Kopfschmerzmittel. Es bestehe aus einem Heilkraut, zu dem ein Zauberspruch gehöre. Die Wirkungsweise des Zauberspruchs erstrecke sich nicht nur auf die Heilung des Kopfes. Wie man nicht den Kopf ohne den Körper heilen könne, genauso auch nicht den Körper ohne die Seele. „Auf das Ganze müsse man seine Sorgfalt richten. Denn ohne sein Wohlergehen komme auch der Teil unmöglich in eine gute Verfassung. Von der Seele nämlich gehe alles Schlechte und alles Gute für den Körper und den ganzen Menschen aus und ströme ihm von dort zu wie vom Kopf zu den Augen. Die Seele also müsse man zuerst und am sorgfältigsten behandeln, wenn sich der Kopf und, was sonst zum Körper gehört, in einem guten Zustand befinden sollen“. Die Seele werde mit Zaubersprüchen behandelt. „Diese Zaubersprüche aber seien die schönen Worte. Durch derartige Worte entstehe in den Seelen die Gesundheit der Seele. Wenn sie erst einmal zustande gekommen sei und anwesend bleibe, könne man mit Leichtigkeit auch dem Kopf und dem übrigen Körper Gesundheit verschaffen“. Sokrates empfiehlt dann Charmides: „Wenn du also... zuerst deine Seele mit den Zaubersprüchen ... besprechen lässt, werde ich hinterher auch das Heilkraut auf deinen Kopf legen. Andernfalls aber wüsste ich nicht, was ich für dich tun könnte, lieber Charmides“. Und der Cousin Kritias kommentiert den Fall so: „Geradezu ein Glückstreffer, Sokrates, wären die Kopfschmerzen ja für diesen jungen Mann, wenn er durch sie gezwungen wäre, auch an seiner Gesinnung (oder: kognitiven Struktur) besser zu werden.“[3]

 

Man kann daraus folgern: Der Schmerz hat in leiblicher Sicht den gleichen Stellenwert wie die Aporie in der Philosophie des Sokrates, und oft ist der empfundene Schmerz für den Patienten das Symbol einer Aporie: Er ist eine Frage an das gesamte Verhältnis zu uns selbst. Es ist darum sinnvoll, in der alltäglichen Lebenspraxis diese Spaltung von Leib und Seele aufzugeben; lediglich aus methodischen Gründen kann die Unterscheidung eine Zeitlang aufrechterhalten werden. Das normale Gespür weist uns den Weg zur Einheit der Natur. Um die Trennung zu überwinden, müssten wir uns klar werden, dass immer ich es bin, der sich selbst im Leib spürt. Immer bin ich es, um den es geht, und nicht allein um Moleküle, Flüssigkeiten und Knochen. Der leibliche Zustand ist darum auch die jeweilige Organisationsform des Menschen in seiner Gesamtkonstitution. Wo der Leib gut behandelt wird, wird immer auch die Seele behandelt. Und umgekehrt: Die Zuversicht in die heilenden Kräfte des Selbst hat in sich schon heilende Wirkung. Und die leibliche Nähe vertrauter Personen lässt auch die Gefühle zur Ruhe kommen.

Die Frage von Gesundsein und Schönsein können wir keineswegs einfach nur den Wissenschaften überantworten. Es gibt tiefere Gründe dafür, dass das Gesund- und Schönsein die unabweisbar persönliche Aufgabe jedes einzelnen Menschen ist. Worin besteht sie?

 

2. Der Leib als Ausdruck von Würde

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Grundsatz hat für uns höchsten Rang, aber er ist sehr abstrakt. Was ist konkret unter Würde zu verstehen?

2.1 Wir sagen von einem Menschen, er strahle Würde aus, und meinen damit die Weise seines Erscheinens und Auftretens. Dem würdevollen Auftreten weisen wir bestimmte äußere Merkmale zu: ein aufrechter Gang, erhobenes Haupt, gemessener Schritt, geordnete Rede, Beherrschung der Gefühle, bedächtiger Umgang mit unerwarteten Situationen. All das Äußere kann auch gekünstelt sein, dann schlägt es in unabsehbaren Situationen allerdings ins Lächerliche um. Authentisch ist Würde nur, wenn sie unmittelbarer Ausdruck einer inneren Verfassung ist: Der Mensch ruht in sich selbst, er ist innerlich unabhängig. Die innere Verfassung lässt sich nicht erzwingen, sondern wird erlernt durch eine am Selbst in all seinen Dimensionen orientierten Entwicklung der Persönlichkeit und durch die Übung der Selbstsorge. Deswegen kann sich solche Würde im Lebenslauf steigern. Einem älteren Menschen schließlich schreiben wir bei aller Gebrechlichkeit die Würde des Alters zu, weil seine Gestalt die Fülle seines gelebten Lebens und der verarbeiteten Erfahrungen ausstrahlt. „Würde hat zu tun mit Seinsmächtigkeit; sie ist deren Darstellung.“[4] Bis in das Leibliche hinein zeigt sich eine Wirkmächtigkeit, in der die Einstimmung in das Sein und die Gestaltungskraft des Selbst in der Persönlichkeit zum Vorschein kommt.

Das würdevolle Wirken hat nichts zu tun mit einer medialen Selbstpräsentation und den davon geforderten Dekorationen der Persönlichkeit, sondern geht von dem Selbststand und dem Spiel von Souveränität und Zurücknahme der eigenen Person aus. Würde zeigt sich in der leiblichen Präsenz eines Menschen, die durch die Übereinstimmung von innerer und äußerer Haltung bestimmt ist. Darin entsteht auch Schönheit in dem Sinn, dass ein Mensch ansehnlich ist – ohne dass er irgendwelchen Schönheitsmustern entsprechen muss. Diese leibliche Würde besteht wesentlich

- „in der Fähigkeit, sich in seinem Handeln nach übergeordneten Zielen und Prinzipien zu bestimmen, statt momentanen Gefühlsschwankungen unterworfen zu sein;

- in der Fähigkeit, sich und seinen Überzeugungen treu zu bleiben, und schließlich

- in der Fähigkeit, sich und seine primären Wünsche zu Gunsten von etwas Höherem zurückzunehmen...

In der Würde manifestiert sich damit, was wir als zentrale personale Qualität des Menschen ansehen, nämlich Freiheit. Aus dem Bewusstsein der inneren Freiheit und Unabhängigkeit schließlich resultiert Selbstachtung... Sie kommt in der leiblichen Souveränität zum sichtbaren und spürbaren Ausdruck.“[5]

2.2 Der Leib ist von seiner organischen Struktur her so geartet, dass er die Personalität und Freiheit überhaupt erst ermöglicht. Der Leib ist ausgelegt auf den Ausdruck der Person in Mimik und Gestik, auf den aufrechten Gang, auf die Kontrolle der Ausscheidungen, auf die Regulation der Emotionen,[6] auf das Erlernen vielfältiger Handlungsmöglichkeiten usw. Der Leib ist auch angelegt auf die zwischenmenschliche Beziehung. Das Baby kann von Geburt an die Mimik anderer Menschen wahrnehmen und nachahmen. Auch biologisch verankert ist die Fähigkeit zur Bindung an andere Menschen. Der Leib ist so geformt, dass die Sprache sich entfalten kann. Damit ist nicht nur die Möglichkeit der Mitteilung alles Eigenen und der Austausch zu gegenseitiger Anregung gegeben. Noch viel wichtiger ist die Möglichkeit, durch Sprache den Standpunkt des Anderen mitdenken zu können, ja die sprachliche Interaktion ist das Korrelat zu den inneren Denkprozessen, in denen sich das Selbstbewusstsein allererst konstituiert. Schon Platon hat das Denken als „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, das ohne Stimme vor sich geht“, verstanden.[7] Wenn Menschen sich als Kinder nicht über sich selbst und ihre Erfahrungen in anerkennender Weise auszutauschen gelernt haben, kann sich dieses „innere Gespräch der Seele mit sich“ nicht aufbauen – sie verstummen und erstarren. Die Selbstreflexion verläuft genauso in Sprache wie der Gedankenaustausch mit anderen; beides wäre nicht möglich ohne die leibhafte Artikulation von Sprache.

2.3 Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Freiheit schließt die Möglichkeit ein, den Leib zum eigenen zu machen, ihn zu regulieren und sich selbst in ihm darzustellen, statt ihm nur ausgeliefert zu sein. Würde setzt die Fähigkeit voraus, den eigenen Leib zu bilden und zu kultivieren; der aufrechte Gang ist dafür der sichtbarste Ausdruck des Selbst. Durch die Überformung des Leibes aus dem Selbst wird eine Verhaltensweise zur „zweiten Natur“, das heißt: zur Selbstverständlichkeit, nicht zur äußerlich aufgezwungenen Form. Erst dieses Geformtsein durch die Gewohnheit (Hegel!) lässt die Handlungsfreiheit der Person entstehen.

Der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola schreibt dem Schöpfer die Absicht zu, den Menschen mit der Freiheit zur Formung seiner selbst auszustatten: „Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine Natur ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt..., damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niederen, zu Tierischem entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“[8] Die Wahlfreiheit macht noch nicht den Menschen zum Menschen. Wir kommen an einer kritischen Prüfung nicht vorbei, zu was wir uns durch unseren wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt selber machen. Selbsterkenntnis ist die unabweisbare Aufgabe von Freiheit – wenn wir sie nicht durch die Wirkungen unseres Handelns selber desavouieren.

2.4 Die Selbstkultivierung in der Weise der Regulation des Leiblichen enthält auch Schutzvorkehrungen, die auch für bestimmte rein körperliche Funktionen und Körperteile den Raum des Intimen zuweisen, besonders die Sexualität. Dazu gehört auch die Entwicklung der Scham, d.h. den Schutz vor der Entblößung, die den Raum der Intimität durchbricht. Die Scham hängt eng mit dem Selbstwerden und der Entwicklung des Selbstbewusstseins zusammen, denn das Selbst, die ureigenste Dimension des Individuums, gerät in Gefahr, wenn es öffentlichen, unkontrollierten Manipulationen ausgesetzt wird. Der Scham liegt die Erfahrung zu Grunde, dass jemand unter dem Blick der anderen seine leibliche Souveränität verliert. Der Blick des anderen auf das Intime hat nur dort seinen Platz, wo Menschen sich aus freier Entscheidung ganz für einander öffnen und dabei die gegenseitige Achtung der Würde des Selbst selbstverständliche Voraussetzung ist.

2.5 Ein Konstituens menschlicher Existenz ist die Zeit. Ihre Spuren zeigen sich im Leib. Im Leib ist die ganze Lebensgeschichte integriert und konstituiert eine zeitliche Einheit. Denn ich bin „keine Reihe psychischer Akte, noch auch übrigens ein zentrales Ich, das diese in einer synthetischen Einheit versammelte, sondern eine einzige, von sich selber untrennbare Erfahrung, ein einziger ‚Zusammenhang des Lebens’, eine einzige, von ihrer Geburt her sich explizierende und in jeder Gegenwart sich bestätigende Zeitlichkeit.“[9] Das bedeutet: Dem Menschen kommt zu allen Zeiten seines Lebens Würde zu und verlangt ihre Achtung, auch und gerade in der Verletzlichkeit, Schutzbedürftigkeit und Hinfälligkeit des Leibes. In gewissem Sinn bleibt der Leib, in dem eine Person inkarniert ist, auch nach dem Tod noch Träger der Würde. Was Volker von Hagen mit seinen plastinierten Leichen anrichtet, ist nichts anderes als Entwürdigung des Menschen, indem Menschen zu Dingen entartet werden. Der Zustrom zu seinen Veranstaltungen ist ein Indiz dafür, dass viele Menschen der Verdinglichung des Menschlichen kaum mehr etwas entgegenzusetzen haben. Die Neugierde für das Entblößte in allen Bereichen der Gesellschaft hat uns ja keineswegs zu mehr Menschlichkeit gebracht.

Ebenso kommen Achtung und Würde am Anfang des Lebens dem Embryo zu, weil wir in ihm „die angedeutete menschliche Gestalt“ (Fichte), die werdende Person bereits erkennen können. Menschsein ist ja zu aller Zeit ein Werden. Was wir dem Erwachsenen zugestehen, gilt ja immer der Person in ihrem leibhafteigen Selbstsein, nicht nur bestimmten Äußerungen. Rationalität und Selbstbewusstsein sind Ergebnis des Werdens einer Person aus deren einfachsten Anfängen heraus. Das Leben der Person beginnt nicht erst mit dem ausgeprägten Selbstbewusstsein und der Fähigkeit der Selbstdarstellung. Die Würde der Person gilt sowohl dem ungeborenen Leib des Anfangs als auch dem hinfälligen Leib am Ende der Lebenszeit.

 

3. Kultivierung des Selbst im Leib

Würde besteht in der Einheit von innerer und äußerer Haltung. Ihre Grundlage besteht im Verhältnis des Menschen zu seiner leiblichen Natur. Dazu sind Fähigkeiten notwendig, in denen der Mensch seinen Leib mit sich selbst ins Gleichgewicht bringt und zu dem Leib eine Beziehung der Regulation aufbaut. Der aufrechte Gang ist das Primärerlebnis solcher Souveränität. Unsere Enkeltochter Ainara erlebt es in ihrem sechsten Lebensmonat als Triumph, dass sie aufrecht stehen kann, und will es immer wieder. Diese Haltung vermittelt ihr die Sicherheit, auf eigenen Füßen stehen zu können. Und darauf beruhen im Werdeprozess alle folgenden Entwicklungsschritte ihres Subjektseins.

 Im Verhältnis zum eigenen Leib geschieht Kultivierung des Selbst, wie sie Hegel charakterisiert: „Die Bemächtigung der Leiblichkeit bildet die Bedingung des Freiwerdens der Seele, ihres Gelangens zum objektiven Bewusstsein. Allerdings ist die individuelle Seele an sich schon körperlich abgeschlossen; als lebendig habe ich einen organischen Körper, und dieser ist mir nicht ein Fremdes; er gehört vielmehr zu meiner Idee, ist das unmittelbare, äußerliche Dasein meines Begriffs, macht mein einzelnes Naturleben aus. Man muss daher, beiläufig gesagt, für vollkommen leer die Vorstellung derer erklären, welche meinen, eigentlich sollte der Mensch keinen organischen Leib haben, weil er durch denselben zur Sorge für die Befriedigung seiner physischen Bedürfnisse genötigt, somit von seinem rein geistigen Leben abgezogen und zur wahren Freiheit unfähig werde. Von dieser hohlen Ansicht bleibt schon der unbefangene religiöse Mensch fern, indem er die Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse für würdig hält, Gegenstand seiner an Gott, den ewigen Geist, gerichteten Bitte zu werden.

Die Philosophie aber hat zu erkennen, wie der Geist nur dadurch für sich selber ist, dass er sich das Materielle — teils als seine eigene Leiblichkeit, teils als eine Außenwelt überhaupt — entgegensetzt und dies so Unterschiedene zu der durch den Gegensatz und durch Aufhebung desselben vermittelten Einheit mit sich zurückführt. Zwischen dem Geiste und dessen eigenem Leibe findet natürlicherweise eine noch innigere Verbindung statt als zwischen der sonstigen Außenwelt und dem Geiste. Eben wegen dieses notwendigen Zusammenhangs meines Leibes mit meiner Seele ist die von der letzteren gegen den ersteren unmittelbar ausgeübte Tätigkeit keine endliche, keine bloß negative. Zunächst habe ich mich daher in dieser unmittelbaren Harmonie meiner Seele und meines Leibes zu behaupten, brauche ihn zwar nicht, wie z. B. die Athleten und Seiltänzer tun, zum Selbstzweck zu machen, muss aber meinem Leibe sein Recht widerfahren lassen, muss ihn schonen, gesund und stark erhalten, darf ihn also nicht verächtlich und feindlich behandeln. Gerade durch Nichtachtung oder gar Misshandlung meines Körpers würde ich mich zu ihm in das Verhältnis der Abhängigkeit und der äußeren Notwendigkeit des Zusammenhangs bringen, denn auf diese Weise machte ich ihn zu etwas — trotz seiner Identität mit mir — gegen mich Negativem, folglich Feindseligem, und zwänge ihn, sich gegen mich zu empören, an meinem Geiste Rache zu nehmen. Verhalte ich mich dagegen den Gesetzen meines leiblichen Organismus gemäß, so ist meine Seele in ihrem Körper frei.

Dennoch kann die Seele bei dieser unmittelbaren Einheit mit ihrem Leibe nicht stehenbleiben. Die Form der Unmittelbarkeit jener Harmonie widerspricht dem Begriff der Seele, — ihrer Bestimmung, sich auf sich selber beziehende Idealität zu sein. Um diesem ihrem Begriffe entsprechend zu werden, muss die Seele, was sie auf unserem Standpunkt noch nicht getan hat, ihre Identität mit ihrem Leibe zu einer durch den Geist gesetzten oder vermittelten machen, ihren Leib in Besitz nehmen, ihn zum gefügigen und geschickten Werkzeug ihrer Tätigkeit bilden, ihn so umgestalten, dass sie in ihm sich auf sich selber bezieht, dass er zu einem mit ihrer Substanz, der Freiheit, in Einklang gebrachten Akzidens wird. Der Leib ist die Mitte, durch welche ich mit der Außenwelt überhaupt zusammenkomme. Will ich daher meine Zwecke verwirklichen, so muss ich meinen Körper fähig machen, dies Subjektive in die äußere Objektivität überzuführen. Dazu ist mein Leib nicht von Natur geschickt; unmittelbar tut derselbe vielmehr nur das dem animalischen Leben Gemäße.

Die bloß organischen Verrichtungen sind aber noch nicht auf Veranlassung meines Geistes vollbrachte Verrichtungen. Zu diesem Dienst muss mein Leib erst gebildet werden. Während bei den Tieren der Leib, ihrem Instinkte gehorchend, alles durch die Idee des Tieres Nötigwerdende unmittelbar vollbringt, hat dagegen der Mensch sich durch seine eigene Tätigkeit zum Herren seines Leibes erst zu machen. Anfangs durchdringt die menschliche Seele ihren Körper nur auf ganz unbestimmt allgemeine Weise. Damit diese Durchdringung eine bestimmte werde, dazu ist Bildung erforderlich. Zunächst zeigt sich hierbei der Körper gegen die Seele ungefügig, hat keine Sicherheit der Bewegungen, gibt ihnen eine für den auszuführenden bestimmten Zweck bald zu große, bald zu geringe Stärke. Das richtige Maß dieser Kraft kann nur dadurch erreicht werden, dass der Mensch auf alle die mannigfaltigen Umstände des Äußerlichen, in welchem er seine Zwecke verwirklichen will, eine besondere Reflexion richtet und nach jenen Umständen alle einzelnen Bewegungen seines Körpers abmisst. Daher vermag selbst das entschiedene Talent nur, insofern es technisch gebildet ist, sofort immer das Richtige zu treffen.

Wenn die im Dienste des Geistes zu vollbringenden Tätigkeiten des Leibes oftmals wiederholt werden, erhalten sie einen immer höheren Grad der Angemessenheit, weil die Seele mit allen dabei zu beachtenden Umständen eine immer größere Vertrautheit erlangt, in ihren Äußerungen somit immer heimischer wird, folglich zu einer stets wachsenden Fähigkeit der unmittelbaren Verleiblichung ihrer innerlichen Bestimmungen gelangt und sonach den Leib immer mehr zu ihrem Eigentum, zu ihrem brauchbaren Werkzeuge umschafft, so dass dadurch ein magisches Verhältnis, ein unmittelbares Einwirken des Geistes auf den Leib entsteht. Indem aber die einzelnen Tätigkeiten des Menschen durch wiederholte Übung den Charakter der Gewohnheit, die Form eines in die Erinnerung, in die Allgemeinheit des geistigen Inneren Aufgenommenen erhalten, bringt die Seele in ihre Äußerungen eine auch anderen zu überliefernde allgemeine Weise des Tuns, eine Regel.“[10]

 

Die gedrängte Darstellung enthält wichtige Einsichten, die wir uns bewusst machen sollten:

1. Das Freiwerden der Seele hängt ab von der Fähigkeit, mit dem Leib und den leibhaften Erfahrungen souverän umgehen zu können, nicht von den körperlichen Reaktionen beherrscht zu werden. Dazu gehören die Unterscheidung zwischen sich selbst und dem Leib sowie das Wissen um den Zweck körperlicher Vorgänge.

2. Ich bin verleiblicht. Der Leib ist nichts Fremdes an mir, sondern die unmittelbare Ausdrucksform meiner selbst, meiner seelischen Befindlichkeit wie meiner Einmaligkeit. Als Wesen der Natur hat jeder Mensch ein äußerliches Dasein, in dem er selbst zum Vorschein kommt.

3. Man kann den Leib weder ignorieren geschweige denn gering schätzen oder bewusst schädigen. Man beeinträchtigt sonst ein konkretes Stück seiner selbst und hat es dann als Regulierung seiner selbst nicht mehr in genügender Weise zur Verfügung. Denn im Leib konkretisiert sich das geistige Leben, insofern der Mensch die Kultivierung seines Inneren darin ausdrückt.

4. Das geistige Leben wird natürlicherweise durch Regungen des Leibes und durch die Gefühle, die sich auf das Leibliche auswirken (Adrenalinspiegel), irritiert. Die Stärke des Geistes besteht gerade darin, diese Regungen auf das Gleichgewicht zwischen Seele und Leib hin zu regulieren. Weil sich die geistigen Erfahrungen, vornehmlich die Lebensfreude, auf die Stabilität des Leiblichen und auf die Gesundheit auswirken, sie vielleicht sogar intensivieren, verdient der Leib höchste Beachtung.

5. Ein unbefangener religiöser Mensch kennt keine Geringschätzung des Leibes, sonst würde er seine Sorgen um die Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse nicht in Bitten vor Gott tragen.

6. Als denkendes Wesen soll der Mensch die Kraft seines Geistes aufbauen. Zu diesem Zweck muss man zum einen einen Unterschied setzen zwischen Geist und Leib, d.h. Geist und Leib sind nicht dasselbe, vielmehr gilt es, Geist und Leib in seinen je eigenen Erfordernissen wahrzunehmen und zu pflegen. Die gleiche Unterscheidung muss man zwischen sich und der Außenwelt machen, damit nicht das Selbst in deren Ansprüchen absorbiert wird. Zum andern muss er Geist und Leib als voneinander unterschiedene Dimensionen seines Seins im Denken zu einer Einheit zurückführen, damit Einklang entsteht.

7. Weil es um die Person als Einheit von Leib und Geist geht, ist diese Verbindung inniger als die zur Außenwelt, bedarf also der besonderen Aufmerksamkeit; sie hört eigentlich nie auf und darf keine negativen Formen annehmen. In dieser Einheit ist der Leib ein Symbol für die ganze Person. Aufmerksamkeit ist deshalb bei körperlichen Symptomen angesagt, ob es sich um ein Ziehen am linken Arm oder um wiederkehrende Kopfschmerzen oder Schwindel handelt. Die Selbstachtung gebietet, den Symptomen nachzugehen, statt sie zu übergehen, weil das Ich von bestimmten Denkmustern besetzt ist. Der Rat eines Arztes macht nur im Rahmen der eigenen Selbstachtung Sinn.

8. Die Sorge um die unmittelbare Harmonie meiner Seele und meines Leibes duldet keinen Raubbau an meinem Leib, indem ich ihn für spezielle Höchstleistungen verzwecke, sondern lässt ihm sein Recht widerfahren. Und das heißt: den Leib schonen durch den rechten Ausgleich von Belastung und Entlastung, ihn gesund und stark erhalten, indem ich ihn der Notwendigkeit entsprechend schütze und die körperlichen Kräfte trainiere, damit sie nicht erschlaffen. Jede Art von aggressiver und entfremdender Behandlung wird dem Leib nicht gerecht.

9. Bei Nichtachtung oder Misshandlung des Leibes entsteht ein Bruch in mir bzw., dies ist ein Symbol für einen bereits vorhandenen Bruch in mir selbst. Der Leib reagiert aggressiv gegen mich, er schlägt gewissermaßen zurück – und vertieft noch den Bruch im Inneren. Da der Leib mit mir identisch ist, gerate ich in Abhängigkeit, die mich in Angst und übertriebene Sorge treibt. Achte ich dagegen auf die Konstitution und die Prozesse des Leibes, wird meine Seele in ihrem Leib frei. Auch hier gilt: Freiheit ist die Notwendigkeit, das Gute, d.h. das zu tun, was dem Leib gerecht wird.

10. Die Achtsamkeit auf den Leib ist die Basis. Sie bezieht sich aber zunächst nur auf die animalische Ebene. Es kommt auch darauf an, dass der Geist die Führung über den Leib übernimmt, damit er zum Werkzeug der dem Geist eigenen Freiheit wird. Das heißt: Der Leib kann so geformt werden, dass er für die Ausformung des Selbst im Umgang mit den Belangen der Außenwelt fit ist.

11. Im Unterschied zum instinktgelenkten Tier hat sich der Mensch durch die Aktivierung seines Selbst „zum Herren seines Leibes erst zu machen“. Zur Entwicklung seiner Möglichkeiten als die konkrete Persönlichkeit ist die Bildung des Leibes erforderlich.

12. Die Bildung des Leibes bezieht sich zum einen auf alle die Ausdrucksformen, die die Souveränität des Selbst unterstreichen: aufrechte Haltung statt geducktes Einhergehen, freie Beweglichkeit, offener Blick auf die Außenwelt, Umsicht und Distanz gegenüber anderen Menschen, ansprechendes Aussehen, das rechte Maß im Wechsel von Zugehen auf andere und Zurückhaltung, bedächtige Gestik – natürlich auch die Pflege des Leibes und die Suche nach der schönen Form.

13. Die Sorge für Gesundheit, körperliche Kraft und Schönheit ist eine wichtige Basis für das Handeln: Ich brauche physische Kraft, um etwas leisten und durchhalten zu können. Und die schöne Gestalt ist für das eigene Selbstbefinden förderlich, man will sich in seiner Haut wohlfühlen. Die Ausprägung des Leiblichen ist eine Sache der Gymnastik und der Diätetik. Sinnvoll wird sie jedoch nur im Kontakt zu sich selbst, nicht in der Absicht auf Außenwirkung.

14. Dazu gehört auch: Das Gelingen des Lebens, besonders in den Beziehungen zueinander, hängt nicht an der Bedürfnisbefriedigung, sondern an der Kultivierung der Bedürfnisse im Ganzen des Menschseins und in der Entfaltung der geistigen Möglichkeiten in der Bedürfnisbefriedigung. Dazu zwei konkrete Beispiele:

·      Die Kochkunst dient der vitalen Bedürfnisbefriedigung. Ihre gesteigerte Form wäre der reine Konsum artifiziell zubereiteter Speisen allein um des Genusses willen (Koch-Sendungen im TV). Ihre Kultivierung durch Vernunftgebrauch besteht darin, dass in einem Mahl alle Möglichkeiten des Menschseins mit dem Genuss hervorragend zubereiteter Speisen so verbunden wird, dass die individuellen und sozialen Möglichkeiten der Menschen zur Entfaltung kommen.

·      Sexualität ist ein zentrales Bedürfnis des Menschseins. Gesteigerte Bedürfnisbefriedigung besteht im puren Erleben sexueller Gefühle um ihrer selbst willen. Die Kultivierung dagegen integriert möglichst viele Kräfte der Vernunft, in denen die Erfahrung innigster Verbundenheit nach allen Seiten hin und intensiv ausgebaut wird. Dazu gehört die erfüllende Gestaltung intimer Zärtlichkeit genauso wie die partnerschaftliche Zusammenarbeit im Alltag und der wechselseitig helfende Austausch über die Bewältigung von seelischen Lasten und Schmerzen.

15. Zum anderen bezieht sich die Bildung des Leibes auf bestimmte Kulturformen. In der Kommunikation miteinander drücken wir schon durch die Körpersprache Interesse oder Desinteresse aus, Achtung oder Geringschätzung, Freude oder Missstimmung, Mitdenken oder Gleichgültigkeit u.v.a.m. – Jede Ausübung von Kunst aus geistiger Erfahrung setzt eine bestimmte Beweglichkeit der Hände, Füße, der Stimme usw. voraus, die der Bildung bedarf, ganz zu schweigen vom Handwerk oder vom Sport. Es ist einfach schön anzuschauen, wenn ein 75-Jähriger Übungen am Barren in angemessener Körperhaltung absolviert – vor allem wenn man es selbst nicht kann. All dies sind leibhafte Ausdruckformen des Selbst, in denen der Mensch nicht bloß den Leib stärkt und geschmeidig macht, sondern sich darin das eigene Selbst entfalten kann. Hingabe an eine Sache, die das Innere ausfüllt, geht nicht ohne die Bildung des Leibes. Dass dazu ein lebendiger Wechsel von Anspannung und Entspannung gehört, das schulden wir dem Leib als Instrument des Selbst, und umgekehrt: darin gestaltet der Leib das Selbst mit.

16. Hegel macht schließlich auf ein wesentliches Moment von Bildung aufmerksam: auf die Gewohnheit. Nicht der ruhelose Wechsel der Aktivitäten und der Erlebnisrausch bringt uns weiter, sondern die wiederholte Tätigkeit des dem Leib Angemessenen. In der Einheit von Leib und Seele erlangt die Seele durch die leibhafte Gewohnheit „eine immer größere Vertrautheit“, die Seele wird „in ihren Äußerungen somit immer heimischer“ und gelangt „zu einer stets wachsenden Fähigkeit der unmittelbaren Verleiblichung ihrer innerlichen Bestimmungen“ und schafft „sonach den Leib immer mehr zu ihrem Eigentum, zu ihrem brauchbaren Werkzeuge“ um. Dadurch entsteht „ein magisches Verhältnis, ein unmittelbares Einwirken des Geistes auf den Leib“, in dem die Einheit von Geist und Leib selbstverständlich wird. Konkret: Menschsein ist ein Werdeprozess, Werden ist Bewegung, sich zu bewegen ist eine alltägliche Notwendigkeit.

 

4. Leibhafte Erfahrungen und Selbstsorge

Die Sorge um sich selbst  ist Ausdruck von Souveränität. Philosophie war für die Antike kein nur theoretisches Wissen, sondern im Sinn eines ganzheitlichen Denkens ging es um die rechte Art zu leben, um wirklich Mensch zu sein in der Welt. Diesen Ansatz hat das Christentum aufgenommen und noch vertieft, ja jegliche Form der Reflexion wurzelt nach christlichem Verständnis in einer bestimmten Lebensform und hat ihre Gestaltung zum Ziel. Die zentralen Leitgedanken lassen sich in dem Begriff der Sorge um sich selbst zusammenfassen. Dieses Wissen war immer schon praktischer Natur.

4.1 Schon in dem Dialog „Alkibiades maior“ von Platon klingt der Gedanke der „Sorge um die Seele“ an (132 c). Aber diese Selbstsorge bezieht sich nicht ausschließlich auf die Seele allein, sondern auch auf den Leib und alle Dinge, soweit sie sich auf die geistige Lebensgestaltung auswirken. Natürlich besaß die Sorge für die Seele eine Priorität, insofern die Seele das leitende Prinzip des Lebens überhaupt ist. Aber der Leib und die für ihn notwendigen Dinge sind in abgestufter Intensität in die Selbstsorge immer einbezogen. Ja, es wird ausdrücklich betont: „So darf auch der Philosoph, der Gott und die Sonne nachahmt, nicht wegen der Sorge um die Seele den Leib völlig vernachlässigen, sondern muss ihm die gebührende Sorge (prosēkousan prónoian) zukommen lassen.“[11] Und bei dem christlichen Lehrer Cyrill von Alexandrien (+444) heißt es dann ausdrücklich: „Wir müssen für beides Sorge tragen, für den Leib und zugleich für die Seele, für den Leib soweit, als es ihm genügt und die Seele durch ihn nicht behindert wird.“[12] Wenn bei einigen Kirchevätern Aussagen zu finden sind (z.B. bei Basilius), die die Leiberfahrung negativ abwerten, gilt es immer den Zusammenhang zu beachten: Leibliche Regungen können eben die Macht über den Menschen bekommen, wenn die Führungskraft der menschlichen Vernunft nicht gestärkt wird. Ausgesprochene Leibfeindlichkeit gab es in der Gnosis, aber man sollte sie weder Platon noch dem Christentum anlasten. – Das schließt nicht aus, dass in der Seelsorgepraxis häufig und eine lange Zeit sehr negative Wertungen des Leiblichen mitgeteilt wurden und ihre bitteren Folgen in der Persönlichkeitsentwicklung hatten. –

Es war weit verbreitete Auffassung unter den christlichen Theologen, dass der Mensch sich um den Leib sorgen muss, damit Harmonie mit der Seele bestehe und damit gutes Leben möglich wird. Cyrill von Jerusalem (+ 387) fasst in seinen „Katechesen“ (Nr. 4) gleichsam die christliche Lehre von der Leiblichkeit zusammen: „Dulde keinen, der sagt, unser Leib habe mit Gott nichts zu tun! Wer glaubt, der Leib habe mit Gott nichts zu schaffen und die Seele wohne in einem Gefäß, das nicht zu ihr passe, der missbraucht ihn leicht zur Unzucht. Was haben sie jedoch an diesem wunderbaren Leib auszusetzen? Was mangelt ihm denn an Schönheit? Was ist nicht kunstvoll an seinem Bau?“[13] Die umsichtige Sorge um die Seele bezieht sich immer auf das Ganze des Lebens, also auch auf den Leib. Ja, „das Christentum ist eine Sache des Lebens“.[14] Jedoch hat der Mensch Vernunft als leitendes Prinzip, um den Umgang mit dem Leib so zu bestimmen, wie es ihm gemäß ist. Zur Vernunft gehört immer die Regulation des Leiblichen. Denn der Leib ist Ausdruck des einen, ganzheitlichen Menschen und seines Lebendigseins.

4.2 Gesundsein gehört für jeden Menschen zuerst und durchgängig zur Sorge um sich selbst. „Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missraten. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit gibt es unzählige Gesundheiten des Leibes.“[15] Gesundsein ist Selbstverwirklichung. Daraus kann man folgern: Gesundheit ist dem Menschen aufgegeben. Sie ist primär nicht Teil seiner biologischen Struktur, sondern die Chance, vernünftig zu leben: Sie ist Sache des Willens. Als Aufgabe für das ganze Leben gehört Gesundheit zu dem Vermögen zur Freiheit.

„Der gesunde Mensch wäre demnach jener durch und durch kreative Mensch, der sich dem anderen und der Welt zuwendet, der aus Erfahrung lernt und seine Meinung äußert und ändert, der die Kraft hat und den Mut gewinnt, etwas im Leben zu investieren, sich einzusetzen, dranzugeben, ja draufzugehen, der Spannungen aushält, Konflikte löst, den Stress meistert; der jeden Tag geschenkten Lebens als Chance nimmt und sich zeitlebens im Prozess des Geborenwerdens weiß, ein Mensch, der stirbt in der Lehrzeit... Kein Zustand also und Besitz, kein Programm und nicht einmal ein Ziel, sondern eher der Gang auf dem Wege... Gesundheit ist ein Pfad, der sich bildet, indem man ihn geht.“[16]

 

 

5. Leiberfahrung in der Bibel

Es geht nicht nur um einen vernünftigen Umgang mit dem Leib, sondern auch um Schönheit. Die biblische Sprache ist allerdings nicht an Formen und Aussehen der Menschen interessiert, die irgendwelche Schönheitsideale darstellen. Schönheit ist kein Ergebnis von richtigen Formen der Gestaltung des Leibes, wer auch immer sie bestimmt, sondern Schönheit entsteht in der Beziehung von Mensch zu Mensch. In der Beziehung kommt Schönheit in dem Maße zum Vorschein, wie der eine auf den anderen aufmerksam ist. Aufmerksamkeit kann nur entstehen, insoweit die Anerkennung des anderen getragen ist von der Anerkennung seiner selbst. Auf die Person, ihren Ausdruck und ihre Dynamik, nicht auf die Formen des Leibes richten sich die Worte des Hohenliedes. Zum Ausdruck seiner Qualitäten zieht man poetische Vergleiche aus der damaligen Lebenswelt heran: „Du bist schön, meine Freundin. Deine Blicke sind Tauben hinter deinem Schleier hervor. Dein Haar ist wie eine Ziegenherde, die vom Gileadgebirge herabstürmt. Deine Brüste sind wie zwei Kitzen, Zwillinge einer Gazelle, die unter Lotusblumen weiden.“ (Hld 4,1-17).

5.1 Die Augen sind schön, weil sie im Anblick des anderen zu leuchten beginnen, das wallende Haar, weil es strotzt vor Kraft, der Hals, weil er von Selbstbewusstsein und Lebensmut zeugt, die Brüste wegen ihrer frischen und lebendigen Ausstrahlung. Die Achtsamkeit und das Schauen auf das Ganze lässt auch das Sichtbare in einem neuen Licht erscheinen und macht es nicht zum Kriterium der Wertschätzung. Die Psalmen, die sich häufig auf den Leib als Ausdruck der Person beziehen, bringen im Gebet die Sehnsucht nach dem ganzheitlichen, heilen Menschen vor Gott. „Ich segne JHWH, der mich beraten hat. Ja, des Nachts mahnten mich meine Nieren. Ich sehe JHWH beständig als mein Gegenüber. Ja, er befindet sich zu meiner Rechten – ich kann nicht wanken. Darum freut sich mein Herz, es jauchzt meine Leber, ja, mein Fleisch wohnt in Sicherheit; denn meine Kehle überlässt du nicht der Unterwelt; du gibst deinem Getreuen das Grab nicht zu sehen.“ (Ps 16,7-10). Es sind nicht bloß Metaphern, sondern leibhafte Erfahrungen mit Gott, um die es geht, um Intuition, Zuversicht, Selbstbewusstsein, Verstand, Gefühl, den ganzen Leib und die Seele.

5.2 Es geht um das Lebendigwerden und die Schönheit, die aus dem Selbst kommen – fern aller äußeren Muster. Im Neuen Testament ist das Heilwerden immer an die Wiederherstellung körperlichen Heilseins gebunden. Die Trennung von Seele und Leib ist der Bibel gänzlich fremd. Das verheißene Heil bekommt seine Gestalt nicht in der verborgenen Heilung der Seele, sondern in der sichtbaren Heilung des Leibes. Die Praxis Jesu ist eine Praxis der Hände, Füße und Augen. Seine Hände lassen Nächstenliebe erleben, seine Füße stehen für das Unterwegssein der Hoffnung in der Zeit. Und wer Augen hat zu sehen, liest die Wirklichkeit wie ein Buch und durchschaut alle Fehlentwicklungen. Jede leibliche Begegnung mit anderen Menschen ist für Jesus Ausdruck seiner liebenden Beziehung von der Begegnung mit der Frau im Haus Simons (Mk 14,3-9) bis zur Fußwaschung. Jesus wirkt die Heilungen nicht durch magische Gesten und Worte. Die zehn Aussätzigen, die seine Hilfe erflehen (Lk 17), schickte er zu den Priestern und auf dem Weg wurden sie geheilt. Er wusste, dass der Glaube der Kranken, ihr grenzenloses Vertrauen es ist, das sie selber zu heilen vermag. Gesundheit ist über weite Strecken Vertrauen auf sich selbst, zu dem Jesus uns anstiftet.

Und wie sollen wir ein Wort von Paulus anders verstehen denn als Bekräftigung der Würde des Leibes: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?“ (1 Kor 6,9). Als Heiligtum muss der Leib geschützt werden und wir verherrlichen Gott, indem wir den Leib in allen seinen Dimensionen für das Gute ins Spiel bringen - sei es in der tätigen Nächstenliebe, die wir ohne Leibeskräfte oft nicht realisieren können, oder in der Liebesbeziehung, die ohne die Zärtlichkeit der leibhaften Begegnung schwerlich Gestalt bekommt.

Leibfeindlichkeit? Das Gegenteil ist angesagt! Die Sorge für die Schönheit des Leibes gehört zur Selbstsorge. Denn Schönheit bedeutet, der Leib wird freigesetzt für den Ausdruck des eigenen Selbst und seine Würde sowie für die Gestaltung von Beziehung zu anderen Menschen. Sich selbst anzunehmen impliziert, die von Gott gegebene Schönheit des Menschseins auch in seinem Leib zu realisieren. Das schließt aus: jede Normierung und Abmessung an Hand fremder Vorgaben und jede Art von Kontrolle, die an äußeren Mustern orientiert ist. Normierte Schönheit kann nicht das Selbst tragen. Aber alles, was dem Selbst Stärke und Gestalt gibt, setzt Schönheit frei.

 

6. Schönwerden als Entfaltung des Selbst

Das Ziel, das von allen philosophischen Schulen der Antike angestrebt wurde, ist die Entfaltung des Selbst. Alle Schulen sind sich darüber einig, dass der Mensch, der sich in unglückseliger Unruhe befindet, ein Opfer der Sorge und der Zerrissenheit der Gedanken und Gefühle ist: Er lebt nicht wirklich, weil er sich selbst entfremdet ist, sondern er wird gelebt. Aber der Mensch ist dazu in der Lage, sich aus diesem Zustand zu befreien, am wahren Leben teilzuhaben, sich zu bessern und umzuformen zur Vollkommenheit seiner selbst. Sich selbst ordnen aber heißt: schön werden. Das griechische Wort ‚kosmos’ bedeutet sowohl Ordnung als auch Schönheit.

 

Schönheit in sich selbst finden

Schön werden ist eine geistige Übung, weil sie auf die Verwirklichung des Selbst angelegt ist. Was Schönheit sein könnte, das können wir zwar an äußeren Formen ablesen, aber sie reichen in keiner Weise an das eigene Selbst heran, aus dem allein Schönheit kommt. Es gibt in uns ein unmittelbares Bewusstsein des Schönen, ein Kosmos in mir, „der nicht durch den Verstand allein geschaut“ wird.[17] Schönheit ist ein Wissen. Das Schöne lässt sich aber nicht am Äußeren ablesen, obgleich es viele schöne Dinge gibt, sondern es wird nur „im Innersten gesehen“[18]. Die Fülle der Schönheit zeigt sich im Maß der Übereinstimmung der Person mit sich selbst, von Seele und Leib.

Schön-Werden geschieht dadurch, dass ich für die Übereinstimmung der Abläufe des Alltags, der Gefühle und Gedanken mit mir selbst immer wieder sorge. „Dass sich im Sein und Werden das Gute und Schöne findet, davon kann nicht das Feuer oder die Erde oder sonst etwas dieser Art die Ursache sein, ebenso wenig der Zufall. Vielmehr ist in den lebenden Wesen und in der Natur die Vernunft (nous) die Ursache aller Schönheit (kósmos) und aller Ordnung (táxis).“[19] Schönheit verwirklichen, schön werden geschieht also zunächst nicht durch kosmetische Arrangements - sie sind nur Hilfsmittel, und es besteht die Gefahr, dass sie nur kaschieren -, sondern Schön-Werden geschieht durch die Hingabe an das eigene Selbst, durch Loslassen auf sich selbst.

 

Seine eigene Statue meißeln

Für das Leben aus dem Selbst hat Plotin eine treffende Metapher gefunden: „Seine eigene Statue meißeln“[20]. Er spielt damit nicht auf Selbsterhöhung an (sich auf den Sockel stellen), auch nicht darauf, dass der Mensch minderwertig wäre und deswegen ständig an sich herumbasteln müsste. Das Selbst ist vielmehr potentiell bereits da, wie eine Statue potentiell bereits im rohen Stein ist. „Wenn du siehst, dass du noch nicht schön bist, so tu wie der Bildhauer, der von einer Büste, welche schön werden soll, hier etwas fortmeißelt, hier etwas ebnet, dies glättet, das klärt, bis er das schöne Antlitz an der Büste vollbracht hat! So meißle auch du fort, was unnütz ist, und richte, was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und lass nicht ab, ‚an deinem Bild zu handwerken’, bis dir hervorstrahlt der göttliche Glanz der Tugend (aretē)... Bis du das geworden bist,... hast du keine fremde Beimischung mehr in deinem Innern...: Wenn du so geworden dich selbst erblickst..., blicke unverwandt, denn allein ein solches Auge schaut die große Schönheit, die Schönheit an sich.“

 

Verzicht als Schritt zur Schönheit

Dieser Gedanke Plotins wird falsch verstanden, wenn man darunter die künstliche Ausformung der Persönlichkeit zu einer Attitüde versteht. Für Plotin besteht Bildhauerei in der Kunst, etwas „wegzunehmen“: Die Statue ist schon vorher im Marmorblock vorhanden, und es genügt, nur das Überflüssige wegzumeißeln, um sie zum Vorschein zu bringen. Das Selbst eines jeden ist schon Grund und Ziel von Schönheit, sonst könnten wir Schönes gar nicht erfahren. Das Glück liegt in der Unabhängigkeit von dem, was mich umgibt und was ich mir an Denkstrukturen zugelegt habe - wie der Stein, aus dem die Statue gemeißelt wird, zuerst im Berg eingeschlossen war, daraus gelöst und von allem, was nicht der Statue entspricht, befreit werden muss. Die Metapher des Wegmeißelns bezieht sich ausschließlich auf die Gedanken und Gefühle, die mich daran hindern, mich in allen Dingen selbst anzunehmen und dem Selbst auch nach außen ein Gesicht zu geben.

 

Schön-Werden durch geistige Übungen

Sich schön machen heißt: dem Inneren eine solche Ordnung geben, dass die ganze Person Glanz ausstrahlt. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich niemand kontinuierlich in einer inneren Ordnung halten kann; zu vieles wirkt von außen verwirrend auf die Seele. Die Umkehr muss also ständig neu erworben werden; deshalb ist der Weg das „Üben“. Die immer wieder vollzogene geistige Übung will die Seele von all dem befreien, was sie von sich selbst ablenkt. Sie verhilft dazu, sich von den Gewohnheiten und Zwängen des Alltags und den kulturellen Denkmustern und Vorurteilen loszureißen und die Art und Weise, die Dinge zu sehen (Glaubenssätze), radikal zu ändern, wo sie nicht fruchten. Es ist nicht Flucht aus der Wirklichkeit, sondern durch das Heraustreten aus dem Alltag kann sich die innere Seelenkraft aufbauen und das Denken so einstimmen, dass wir mit ganz anderen Denkstrukturen an den Alltag herangehen. „Alle Schönheit reizt zur Zeugung, darin liegt das Besondere ihrer Wirkung.“[21]

Zu den unendlichen Möglichkeiten der seelischen Kraft habe ich nur Zugang, wenn ich der (schöpferischen) Vernunft in mir, dem Selbst den Raum für das Eigene lasse. Jede geistige Übung ist eine Rückkehr zu sich selbst, die das Ich von jeder Selbstentfremdung befreit und für die Universalität des Geistes öffnet, zu der es nur den Zugang über die Seele gibt. Wenn das Selbst zu einer wirklich bestimmenden Größe in meinem Denken und Handeln wird, kann es sich auch im Leib widerspiegeln. Die so entfaltete Schönheit besteht nämlich in einer Übereinstimmung von Seele und Leib, die die Identität und Einmaligkeit eines jeden Menschen auszeichnet. Wenn ich in mir selbst versammelt bin, bin ich frei von allen Standards, Vorurteilen, fremden Mustern. Dann entdecke ich auch das Schöne am anderen Menschen – vielleicht sogar an dem Menschen, der nicht gemocht wird.

 

Schluss

Schönheit ist zuerst in mir als Potenz, als Fähigkeit. Sie ist eine Eigenschaft des einmaligen Selbst. Es gibt keine Modelle für Schönsein. Jeder hat in sich die Kraft und die Grundrichtung zum Schönsein. Indem ich für mich selbst sorge, werde ich schön in der Weise, wie es mir zu Eigen ist. Man sieht es Menschen auch an, ob sie für sich selbst, für den Kosmos in sich selbst sorgen. Sie strahlen nämlich Glanz, Licht und damit auch Schönheit aus, die andere anzieht.

 

Als konkrete Beispiele zur Erläuterung folgen ein Vorschlag zur Leiberfahrung als geistige Übung und die Kurzschilderung einer persönlichen Erfahrung.

 

Rudi Ott: Auf den eigenen Leib achten - Meditationsübung

Die Achtsamkeit auf den eigenen Leib gehört zu den Haltungen, die den Menschen zu sich selbst finden lassen. Im Erspüren der Glieder und Funktionen werden wir der Wohlgeratenheit der leiblichen Gestalt als einer wichtigen Komponente des Selbst gewahr. Das bewusste Erleben des Leibes stärkt das Selbstwertgefühl. Für den frühchristlichen Theologen Basilius von Caesarea ist die Achtsamkeit auf den Leib sogar ein Weg der Gotteserkenntnis, die der Mensch aus sich selbst gewinnen kann: „Richte deine Aufmerksamkeit auf die Gestalt des Leibes. Staune darüber, wie der beste Künstler ihn zu einer genau passenden und ansehnlichen Wohnstätte für die vernünftige Seele gefügt hat. Als einziges von allen Lebewesen hat er ihn mit aufrechter Statur entworfen, damit du schon an der äußeren Erscheinung erkennst, dass dein Leben von himmlischer Abkunft ist“. Von Leibfeindlichkeit findet sich hier keine Spur.

Diese Achtsamkeit muss jedoch eingeübt werden, vornehmlich wenn wir den Leib nur als Instrument für bestimmte Ziele einzusetzen gelernt haben oder wenn wir seine Gestalt bisher vernachlässigt haben. Basilius schlägt vor, den Leib bewusst wahrzunehmen und in der Vorstellung konzentriert von einem Teil zum andern durchzugehen. „Gehst du alles mit Bewusstsein und Bedacht durch und erfährst, wie die Luft durch die Lungen eingeatmet und die Wärme im Herzen erhalten wird, wie die Verdauung reibungslos verläuft und das Blut durch die Adern fließt, so wirst du erst aus alldem die unerforschliche Weisheit deines Schöpfers eindringlich wahrnehmen. So kannst du auch mit dem Propheten sagen: Wunderbar lerne ich dich aus mir kennen (vgl. Ps 139,6). Achte also auf dich selbst, damit du auf Gott achtest! Ihm gebührt die Ehre und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Diese Erfahrung kann sich in der folgenden Meditationsübung erschließen.

Die Meditationsübung ist darauf ausgerichtet, den ganzen Leib in der Vorstellung (evtl. bis ins Detail) zu erspüren. Das Mittel des Erspürens ist das Atmen. Die Übung leitet dazu an, einen bestimmten Teil des Leibes, auf den man seine Aufmerksamkeit richtet, unmittelbar wahrzunehmen und darin zu verweilen, während man mehrmals in ihn hinein‑ und aus ihm herausatmet. Die Aufmerksamkeit bewegt sich am Leib entlang, nimmt die Teile und Funktionen bewusst wahr, sammelt Spannungen und Schmerzen ein und atmet sie aus. Dies kann in folgenden Schritten geschehen.

1. Ich lege mich auf den Rücken, auf eine gepolsterte Matte oder aufs Bett. Die Temperatur um mich herum ist nicht zu kalt und nicht zu warm; ansonsten verschaffe ich mir einen Ausgleich, z.B. mit einer Decke.

2. Ich schließe entspannt die Augen. Ich will aber innerlich wach bleiben.

3. Ich achte zuerst auf den selbstverständlichen Gang meines Atems. Dabei konzentriere ich mich bei jedem Ein‑ und Ausatmen auf das Heben und Senken der Bauchdecke.

4. Ich erspüre zuerst meinen Leib als Ganzes, wie er von der Haut umhüllt ist.

5. Ich richte nun meine Aufmerksamkeit auf die Zehen des linken Fußes. Ich lenke den Atem dorthin, indem ich in die Zehen hinein und wieder aus ihnen heraus atme. Für diese Vorstellung brauche ich vielleicht ein wenig Zeit.

Dabei kann die Vorstellung vom Weg des Atems helfen, wie der Atem durch die Nase einströmt, in die Lungen hinabsinkt, weiter in den Bauch, ins linke Bein bis hinab in die Zehen ‑ und wieder zurück.

6. Ich versuche, alle Gefühle wahrzunehmen, die in den Zehen entstehen. Wenn ich nichts spüre, ist das auch in Ordnung.

7. Sobald die Gedanken abschweifen, hole ich sie wieder zum Atem zurück. Alle Empfindungen, die dabei auftreten, registriere ich nur und lasse sie los.

8. Ich taste mich dann am Fuß weiter, z.B. zum Fußgelenk, und atme wieder in diesen Bereich hinein und wieder aus ihm heraus.

9. Ich taste mich auf diese Weise durch das linke Bein aufwärts bis zum Becken, indem ich in jede Region des Leibes hinein und wieder aus ihr heraus atme. Ich erspüre so jede Körperregion mit meinem Atem.

10. Das Abtasten kann weitergehen zum rechten Bein bis in die Zehen und wieder zurück   bis zum Scheitel. Die Aufmerksamkeit bleibt währenddessen fest auf den Atem und die Empfindungen in der einzelnen Region des Leibes gerichtet.

11. Wenn ich irgendwo Schmerzen verspüre, kann solches „Abtasten“ des Leibes sogar hilfreich sein: Ich beginne mit der Atemübung an einer anderen Stelle des Leibes. Von den Schmerzen lasse ich mich dabei gar nicht beirren. Ich bewege meine Vorstellung und Atemübung allmählich immer näher zu der schmerzenden Region. Dann atme ich bewusst in die schmerzende Region hinein und wieder aus ihr heraus. Ich registriere alle Gedanken und Empfindungen und lasse sie los. Ich wiederhole diese Übung, bis es gut ist. Dann gehe ich zu einem anderen Bereich weiter. ‑ Ich kann meine Aufmerksamkeit auch direkt auf die Schmerzstelle richten. Ich atme bewusst in diesen Bereich hinein und wieder aus ihm heraus.

Im Achthaben auf den eigenen Leib sorge ich selbst für die Einheit meiner Person. Darin liegt eine wesentliche Voraussetzung für eine Spiritualität, die die Erde mit dem Himmel verbindet.

 

Kurzschilderung einer persönlichen Erfahrung

Ein vererbtes Problem ist die Regulation des Blutdrucks. Seit einiger Zeit beschäftigte mich ein Problem, das direkt meine persönliche Situation betraf, aber von mir nicht reguliert werden konnte. Das heißt: Darüber hatte ich keine Macht, etwaszu verändern. Anlässlich eines Checkup beim Hausarzt drängte es mich, auf die Frage des Arztes "Wie geht es?" das konkrete Problem darzulegen; dabei steigerte ich mich auch emotional in diese Erfahrung hinein, weil sie in mir Platz gegriffen hat. Die anschließende Blutdruckmessung ergab: 180 zu 80 – Schock, aber heilsam. Da wurde mir klar, wie sehr mich diese Erfahrung zu beherrschen begann. Besinnung auf die alte stoische Lebensregel: Du musst unterscheiden zwischen dem, worüber Du Macht hast, und dem, worüber Du keine Macht hast. Letzteres geht dich nichts an. Denken ist Unterscheiden und Du musst dir das Unterscheiden zum Gegenstand Deines Denkens machen. Mit dieser bewussten Einstellung machte ich mir klar, dass ich selbst nicht das bin, was mich bewegt, zumal ich überhaupt nichts damit zu tun habe. Indem ich mir dieses Unterscheiden zwischen mir selbst und dem, was mit mir direkt nichts zu  tun hat,  in den nächsten Tagen zum Dauerinhalt meines Denkens machte, entstand eine Dissoziation, bei der die Gedanken an das vorher belastende Problem Schritt für Schritt verschwanden. Nach vier Tagen stand mein Blutdruck wieder auf normal: 135:72. – Wir können nicht alles verändern, aber wir können durch unser Denken die Probleme lösen, die uns selbst betreffen. Weitere Überlegungen in anderen Themen der Homepage helfen hier weiter.

 

 
[1]       Georg Groddeck: Krankheit (1893), in: Ders.: Krankheit als Symbol. Schriften zur Psychosomatik, hrsg. von Helmut Siefert. Frankfurt am Main 1983, 23-26, hier 24.

[2]       Sylvia Schneider: Schönheit: Letztes Mittel gegen die Emanzipation, in: Psychologie heute special: Frauenschönheit. Weinheim 1992, 52-57, hier 52.

[3]       Platon: Charmides 155 b ‑ 157 c.

[4]       Robert Spaemann: Über den Begriff der Menschenwürde, in: Scheidewege 15 (1985/86) 20-36.

[5]       Thomas Fuchs: Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays. Kusterdingen 2008, 107. Die Überlegungen in Abschnitt 2 sind davon angeregt.

[6]       Diese Regulation wird erst möglich durch die Ausbildung  des präfrontalen Hirnkortex, der erst zwischen dem 3. Lebensjahr und dem mittleren Erwachsenenalter ganz ausreift. Der präfrontale Kortex wirkt über hemmende Bahnen zu den Strukturen des limbischen Systems regulierend und dämpfend auf affektive Impulse. Vgl. Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart 2008, 213.

[7]       Platon: Sophistes 263 e .

[8]       Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Hamburg 1990, 7.

[9]       Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, 463.

[10]     Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III: Die Philosophie des Geistes § 410, in: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 10, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, 189 f.

[11]     Elias: Prolegomena philosophiae, in: In Porphyrii Isagogen et Aristotelis Categorias Commentaria 6, ed. A. Busse (Commentaria in Aristotelem Graeca XVIII 1). Berlin 1900, 15, Z. 30.

[12]     Cyrillus Alexandrinus: Commentarii in Matthaeum, ed. Josef Reuss (Matthäus-Kommentare aus der griechischen Kirche). Berlin 1957, fr. 81,3.

[13]     Cyrill von Jerusalem: Katechesen. Übersetzt und eingeleitet von Philipp Häuser. München/Kempten 1933, 74.

[14]     Johann Adam Möhler: Athanasius der Große und die Kirche seiner Zeit, besonders im Kampfe mit dem Arianismus. Mainz21844, 154.

[15]     Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, n. 120, in: Ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta. Darmstadt 1966, Bd. 2, 123.

[16]     Heinrich Schipperges: Zum Verständnis von Gesundsein in der Geschichte der Medizin, in: Hans Schaefer (Hrsg.): Der gesunde kranke Mensch. Düsseldorf 1980, 9-38, hier 37 f.

[17]     Augustinus: De vera religione – Über die wahre Religion  30,55.

[18]     Augustinus: Confessiones - Bekenntnisse VI 16,26.

[19]     Aristoteles: Metaphysik 984 b 11-17.

[20]     Enneade I 6,9,7.

[21]     Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Werke II, 1003.

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